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LÖWENGOTT - Der Löwengott von Delphi

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2018-11-08 2018-11-08 08.11.2018

Zu den kleinen Meisterwerken im Archäologischen Museum von Delphi 1 gehört die Elfenbeinstatuette, die 1939 bei den französischen Ausgrabungen im delphischen Apollonheiligtum unter dem Pflaster der Heiligen Straße gefunden wurde und seither unter dem Rufnamen „Löwengott“ oder „Löwenbändiger“ Eingang in die archäologische Literatur gefunden hat. Die Statuette, die eine Höhe von 22,5 cm hat, wurde noch im gleichen Jahr von dem französischen Archäologen und langjährigen Direktor der École Française d’Athènes Pierre Amandry (1912-2006) publiziert 2. Schon 5 Jahre nach Auffindung und Erstvorstellung nahm P. Amandry eine umfassende Untersuchung und Würdigung der Elfenbeinstatuette vor. Eine kleine Ergänzung erfuhr diese Arbeit dann 1962, nachdem 1960 griechische Restauratoren des Athener Nationalmuseums die während des Krieges nicht zugängliche Basis mit den Füßen des Mannes - unter Ergänzung eines Teiles der Unterschenkel - und den Hintertatzen des Tieres hinzugefügt hatten. Diese schnelle und eingehende Veröffentlichung des Fundes ermöglichte eine rasch entstehende Diskussion, die in ihrem Verlauf bis heute gezeigt hat, wie umstritten dieses Meisterwerk griechischer Kunst in der archäologischen Forschung ist. Die Statuette des „Löwengottes“ stellt nicht nur ein wichtiges, sondern auch ein schwer einzuordnendes Werk dar, wie die zahlreichen publizierten Meinungen zur Datierung und landschaftlichen Einordnung 3 verdeutlichen. Aber nicht nur Datierung und Einordnung in einen landschaftlichen Bereich sind in der Forschung umstritten, wie die in Anmerkung 3 gezeigte Aufstellung zeigt, auch die Deutung des Tieres als Löwe scheint mir wenig einleuchtend.

1939 wurde im Apollonheiligtum in Delphi „in zwei Gruben unter der ’Tenne’ vor der Athenerhalle (…) Reste von kostbaren Weihgaben aus Gold, Elfenbein, Silber und Bronze“ ausgegraben, die dort regelrecht „rituell bestattet worden (waren)“, wie der Archäologe Michael Maass 4 schreibt. Vermutlich wurden alle Teile dieses Schatzfundes gegen Ende des 5. Jhs. v. Chr. oder zu Beginn des 4. Jhs. v Chr. „nach einer schweren Beschädigung“ in diese Gruben gelegt und so gesichert. Wegen des 2. Weltkrieges wurden „die meisten Funde (…) zunächst in der Nationalbank von Athen gesichert“ und später umfangreich restauriert. Nach Abschluss der Restaurierungsarbeiten 1977/78, den der griechische Antikendienst durchgeführt hatte, wurden alle Funde in einem separaten Raum im Museum von Delphi fachgerecht ausgestellt. Zu diesem Schatzfund, zu dem u. a. auch „eine monumentale Stierfigur aus Silberblech“ 5 und „drei große Götterbilder“ 6 gehören, zählt eine gut erhaltene Elfenbeinstatuette, deren Rufname in der Forschung „Löwengott von Delphi“ lautet und deren Datierung wie auch landschaftliche Zuweisung nach wie vor in der Archäologie umstritten ist. Sie ist heute Bestandteil der Sammlung des Archäologischen Museums in Delphi unter der Inv.-Nr. 9912 7. Die Elfenbeinstatuette mißt mit der später hinzugefügten Basis 24 cm, ohne die Basis und die Ergänzungen 19 cm. Sie muss an einem Hintergrund befestigt gewesen sein, wofür mehrere Merkmale zu sprechen scheinen:  zum einen das quadratische Dübelloch im Rücken, zum anderen der Umstand, dass die Statuette in der Seitenansicht äußerst schmal wirkt, die Vorderseite demnach die Hauptansichtsseite ist, vor allem jedoch die Tatsache, dass die Rückseite mit Ausnahme des Kopfes nicht detailliert ausgearbeitet ist. Dieses Elfenbeinwerk gehört also in die Reihe der unter dem Begriff „Kleinkunst“ zusammenzufassenden Arbeiten, die in die Heiligtümer als Weihgeschenke, Teile von Weihgeschenken oder Kultgeräten gelangten. 

Dargestellt ist ein mit kurzem, die Beine freilassenden Chiton und Himation bekleideter Mann in Frontalstellung. Das Himation ist gegürtet, teilt sich jedoch vor dem Schoß, lässt so den unteren Chitonrand und die nackten Beine sichtbar werden und fällt im Rücken auf die Basis herab. Zur Frisur des Männes ist zu sagen, dass die Haare in der Kopfmitte gescheitelt und im Nacken abgeschnitten sind, dass zwei Locken  über die Schultern nach vorn fallen und in zwei verzierten Scheiben enden. Auffallend sind die großen, mandelförmigen Augen, die in einem klaren Gegensatz zu der klein und zierlich gebildeten Nase und dem in ähnlicher Weise angegebenen Mund stehen. Die Pupillen der Augen waren in einem anderen kostbaren Material eingesetzt, das verlorengegangen ist. Eine Betonung erfahren die Augen durch die erhöht angegebenen Brauen. Die Ohren stehen etwas vom Kopf ab, der nach hinten fast dreieckig geformt ist. Eine besondere Rahmung bekommt das Gesicht durch die nach hinten beinahe brettartig und nach vorn in zwei Zöpfen endende Frisur. Die rechte Hand des Dargestellten umfasst einen stabähnlichen Gegenstand, auf den zurückzukommen ist, während die linke Hand auf dem Kopf eines Tieres ruht, das an seiner linken Seite, auf den Hintertatzen stehend, die Vorderpranken spreizend, im Profil dargestellt ist, den Kopf allerdings frontal dem Betrachter zuwendet.

Allgemein wird das dargestellte Tier als Löwe und die Gruppe als „Löwengott“ oder „Löwenbezwinger“ gesehen. Vor allem durch den Fundort  - das delphische Apollonheiligtum -  veranlasst, deutete H. Cahn die Gruppe als Apollon mit Löwen, indem er daraufhinwies, dass in der Frühzeit gerade im Osten häufig Löwen zu Apollon gehören 8. Diese Deutung wurde in der archäologischen Forschung allgemein anerkannt und ist, soweit ich sehe, an keiner Stelle in Frage gestellt oder abgelehnt worden. Cahns These muss jedoch widersprochen werden. Wie mir scheint, haben doch in der griechischen Kunst Löwen im allgemeinen eine andere Darstellungsform erfahren. Zieht man Werke aus der Vasenmalerei zu Rate, wie etwa die protoattische Halsamphora in London 9, auf deren Halsbild in einem rechteckigen Rahmen ein Löwe abgebildet wird, der im Begriff ist, ein Reh zu reißen, so kann man wenig Übereinstimmung mit dem bei der delphischen Statuette dargestellten Tier finden. Besonders häufig sind Löwendarstellungen in der korinthischen Vasenmalerei. Aber auch hier führen Vergleiche zu keiner befriedigenden Übereinstimmung. So zeigt z. B. die frühkorinthische Amphora aus Rhodos, die sich heute im Britischen Museum in London 10 befindet, in ihren fünf Bildstreifen auf dem Gefäßkörper mehrere Löwen; eine Gegenüberstellung dieser Löwen mit dem bei der delphischen Statuette gegebenen Tier führt jedoch zu keiner Übereinstimmung. Festzuhalten bleibt, dass sowohl die Köpfe als auch die übrigen Körper verschieden dargestellt sind - bei dem Delphi-Exemplar schlank, auf der Londoner Amphora fülliger und muskulöser. Etwa ein Jahrhundert später als die Elfenbeinstatuette aus Delphi ist eine schwarzfiguriger attische Randschale zu datieren, die sich heute im Besitz des Badischen Landesmuseums Karlsruhe 11 befindet und in ihrem Innenbild die Darstellung eines Mannes mit dem Bogen in seiner Linken zwischen zwei Löwen zeigt, wobei sich die Löwen von ihm abwenden und gegen das Rund des Schalenbildes stemmen. Diese Schale ist eine Arbeit des Epitimos-Maler, eines attischen Töpfermalers aus der Mitte des 6. Jhs. v. Chr., der ausschließlich schwarzfigurig gemalt hat und des Innenzeichnung eindeutig als Abbildung des Apollon zwischen Löwen betrachtet wird. Allerdings findet sich auch keine Übereinstimmung mit dem „Löwen“ der delphischen Gruppe; nicht nur, dass die Köpfe der beiden Löwen im Profil und nicht frontal gegeben sind, auch anatomisch sind die Löwen des Schalenbildes anders gestaltet, vor allem jedoch tragen sie eine Mähne, die dem delphischen Tier fehlt, obwohl es ja eindeutig als ein männliches gekennzeichnet ist.

Auch plastische Löwenbilder, die etwa Hanns Gabelmann in seiner Dissertation 12 behandelt und zusammengestellt hat, zeigen mit unserem Beispiel wenig Ähnlichkeit. Außerdem unterscheidet Gabelmann beim griechischen Löwenbild des 7. Jahrhunderts den „Herzohrtypus“, der einen Halswulst hat, und den „Rundohrtypus“, bei dem ein Kragen den Abschluss bildet. Doch weder mit Vergleichsstücken des einen noch des anderen Typus ist das delphische Werk eindeutig zu verbinden. Sehr schöne Beispiele plastischer Löwenbilder, die ich in diesem Zusammenhang anführen möchte, obwohl sie erheblich jünger sind und in die Mitte des 6. Jhs. v. Chr. gehören, sind die liegenden Löwen einer lakonischen Bronzehydria 13, die unlängst in einer Hamburger Ausstellung zu sehen war. Die Löwen dieser Bronzehydria sind durch die Mähne und aufgrund ihres Körperbaues eindeutig als Löwen zu erkennen.

Aus diesen Überlegungen und angedeuteten Vergleichen ergibt sich, dass es sich bei dem Tier der delphischen Gruppe nicht um einen Löwen handeln kann, sondern dass es vielmehr ein Panther sein muss. Auch hierfür sollen Beispiele aus der Vasenmalerei herangezogen werden, wie etwa eine frühkorinthische Olpe in London 14. Sie stammt aus Kamiros auf Rhodos und wird ins letzte Jahrzehnt des 7. Jhs. v. Chr. datiert. Im unteren Bildfries befindet sich eine Darstellung eines Doppelwesens, eines Panthervogels mit zwei Körpern, die in einem frontalen Pantherkopf einmünden. Vergleicht man diesen Pantherkopf mit dem delphischen Tierkopf, so findet man Übereinstimmung in der Frontalität und gewisse Ähnlichkeiten in der Kopfbildung. Es tritt noch hinzu, dass gerade archaische Bilder den Panther meist mit der Vorderansicht des Kopfes zeigen, dass gerade archaische Bildhauer den Panther meist mit der Vorderansicht des Kopfes zeigen, im Unterschied zum Löwen 15. Wenn mit dem Tier der Elfenbeinstatuette nun ein Panther gemeint ist, dann kann die Deutung der Gruppe auf Apollon wohl kaum zutreffen. Überprüft man die Liste der Götter, mit denen ein Panther in Verbindung stehen kann, fällt einem sofort Dionysos ins Auge, der gerade in der Vasenmalerei häufig zusammen mit einem Panther dargestellt wird und der im delphischen Apollonbezirk ebenfalls kein Unbekannter war. Berichten des Plutarch zufolge befand sich in Delphi das Grabmal des Dionysos; weiter sagt Plutarch, dass Delphi dem Dionysos ebenso gehöre wie dem Apollon und dass Dionysos während der drei Wintermonate der alleinige Herr des gesamten Heiligtums sei 16. Deswegen formuliert die Archäologin Karin Braun: „Anfangs war es wohl ein Losorakel, das durch das Inspirationsorakel ergänzt wurde, vielleicht unter dem Einfluss des Gottes Dionysos, der in Delphi während der Wintermnate November bis Januar die Herrschaft übernahm, während Apollon bei den Hyperboreern weilte. Während dieser Zeit gab es in Delphi kein Orakel.“ 17. Und in W. Ottos Buch 18 ist nachzulesen, dass sogar behauptet wurde, Dionysos sei früher in Delphi gewesen als Apollon. Demnach erscheint Dionysos in Delphi ebenso verehrt worden zu sein wie Apollon, und er war ihm wohl gleichgeordnet.

Akzeptiert man die Deutung der delphischen Elfenbeinstatuette als Dionysos mit Panther, wäre damit wohl eine der ältesten bildlichen Darstellungen des Gottes gewonnen. Das ist begrüßenswert vor allem, weil in der griechischen Kunst der Panther, zumal außerhalb der Vasenmalerei, verhältnismäßig selten zu finden ist.

Doch jetzt ist noch der Gegenstand zu erklären, den der Gott in seiner Rechten hält. Im allgemeinen wird er als Lanze angesehen, wobei schon K. Fittschen 19 diese Feststellung mit einem Fragezeichen versah und als andere Deutung ein Szepter vorschlug. Handelt es sich um eine Lanze, so umgreift der Gott diese zu hoch und würde sich verletzen; deutet man den Gott als Dionysos, liegt als Erklärung für den stabähnlichen Gegenstand der Thyrsosstab auf der Hand. Es muss jedoch zugegeben werden, dass die Deutung als Thyrsosstab insofern schwierig ist, da Vergleichsbeispiele aus der Vasenmalerei den Thyrsosstab in einer anderen Darstellungsform zeigen, wobei zwischen einem natürlichen und einem künstlichen Thyrsos zu unterscheiden ist. Die andere und anscheinend von der Norm abweichende Darstellungsform des Thyrsosstabes der delphischen Statuette könnte in dem Material begründet liegen, das dem Künstler nicht erlaubte, einen großen, über den Kopf des Gottes hinausragenden Thyrsos darzustellen, sodass er ihn auf diese Form beschränken musste 20

Dass es sich bei dieser Elfenbeinstatuette um die qualitätvolle Arbeit eines griechischen Künstlers handelt, kann wohl nicht ernsthaft bestritten werden, wenngleich starke orientalische Einflüsse nicht von der Hand zu weisen sind. Diese jedoch sollten nicht verwundern, da offensichtlich ein intensiver Kulturaustausch zwischen Griechenland und dem Orient existierte und eine gegenseitige künstlerische Beeinflussung stattfand. Dennoch liegen bei dieser Elfenbeinstatuette, wie Karl Schefold mit Recht feststellt, zahlreiche Merkmale vor, die darauf hinweisen, dass es eine griechische Arbeit sein muss. Als typisch griechisch anzusehen ist beispielsweise das Mäanderband, das den oberen Rand der Basis schmückt, auf der der Gott und der Panther stehen. Man kann Schefold nur zustimmen, wenn er konstatiert, dass „der feste klare Zug des Mäanders griechisch ist“ 21. Ebenso richtig ist seine Bemerkung, dass dieses Ornament schon auf samischen spätgeometrischen Vasen nachgewiesen sei und ein Motiv darstelle, das in engem Zusammenhang stehe mit anatolischer Textilkunst 22. Aus dieser Tatsache allerdings ein wesentliches Argument für eine Frühdatierung ableiten zu wollen, scheint mir übereilt.

P. Amandry sah in der Statuette die Schöpfung einer Werkstatt aus der Gegend Samos – Milet – Ephesos, also ein Werk aus dem ostionischen Bereich. Dies scheint mir bislang der einleuchtendste Vorschlag für eine landschaftliche Einordnung zu sein. So sah Amandry ionische Elemente vorhanden in dem „Sinn für Volumen“, in dem „Sinn für feingespannte Wölbungen“ und nicht zuletzt in dem Können, die männliche Figur und auch das Tier so darzustellen, dass der Knochenbau erahnt werden könne, ohne ihn darstellen zu müssen. Als echt griechische Elemente strich er das „subtile Kurvenspiel“ und die Ähnlichkeit der Krallen mit der „Zierlichkeit menschlicher Finger“ besonders heraus, Bemerkungen, denen durchaus zu zustimmen ist. Sehen wir uns im Bereich Samos oder Ephesos um, so finden wir Beispiele, die in die Nähe der delphischen Statuette zu setzen sind und die Schefold z. T. ebenfalls herangezogen, jedoch vorwiegend aus zeitstilistischen Gründen abgelehnt hat. So zeigt die samische Tonkore, die Schefold zuerst zum Vergleich heranzog, dann aber ablehnte 23, Ähnlichkeiten nicht nur in den überhöht angegebenen Brauen und in der Augenangabe, sondern ebenfalls in dem vom Künstler beabsichtigten Gegensatz des klein wiedergegebenen Mundes und den dazu überwölbt erscheinenden Wangen, lässt darüber hinaus eine verwandte Proportionierung - kleine Extremitäten zu großem Kopf -  sichtbar werden. Außerdem erscheint mir die „Fügung heterogener Elemente“ bei der delphischen Elfenbeinstatuette auch nicht so parataktisch zu sein, wie Schefold postuliert, ein Phänomen, das er als gegeben ansieht und aus dem er u. a. seine Frühdatierung ableitet 24.

1957 wurde im Bach westlich der Südhalle in Samos eine Elfenbeinstatuette eines Jünglings oder Mannes mit auf die Brust gelegten Händen gefunden, eine Statuette, die wohl in das mittlere Drittel des 7. Jhs. v. Chr. zu datieren ist 25. Übereinstimmend oder zumindest ähnlich ist die Augenbildung; sowohl beim sog. „Löwengott“ als auch bei der samischen Statuette waren die Pupillen in einem anderen Material eingesetzt. Auffallend sind auch die etwas vom Kopf abstehenden Ohren, ähnlich ist die Bildung des Kopfes, der nach unten fast dreieckig zuläuft, und darüber hinaus ist der Gegensatz von kleinen Extremitäten zu großem Kopf, von großer Nase und großen Augen zu kleinem Mund vergleichbar. Auch sind beide Statuetten, rechnet man bei der samischen die fehlenden Teile hinzu, annähernd gleich groß. Umstritten, jedenfalls nicht eindeutig geklärt, ist bei der samischen Statuette die landschaftliche Zuweisung; sie wird von H. Walter und K. Vierneisel 26 in den „südphönikischen Kunstbereich“ gewiesen. Fest steht doch wohl auch bei dieser Statuette, dass es sich um ein griechisches Werk des 7. Jhs. v. Chr. handelt und sich orientalische Einflüsse mit griechischen mischen.

Der Lösung käme man vielleicht näher, wenn man die delphische Elfenbeinstatuette mit dem knieenden Elfenbeinjüngling aus Samos 27 vergleicht, dessen Datierung in den Beginn des letzten Viertels des 7. Jhs. v. Chr., in die Jahre 630/620 v. Chr., unumstritten zu sein scheint. Ins Auge fallen nämlich bei beiden Statuetten die übergroßen Augen, die aus einem anderen Material eingesetzt waren. Ähnlich ist auch die Frisuranlage; beim Elfenbeinjüngling fällt das hinter die Ohren gekämmte Haar vorn in zwei dicken Zöpfen auf die Brust. Ernst Buschor äußerte sich bewundernd über den Elfenbeinjüngling und besonders über die Wiedergabe von Einzelheiten wie Nasenflügel, Oberlippe, Mundwinkel - alles Einzelheiten, die in Delphi im Ansatz, wie ich finde, vorhanden sind. Betrachtet man Details wie etwa die Haarbildung, so findet man auch Übereinstimmung mit dem in den Beginn des 6. Jhs. v. Chr. zu setzenden „Jüngling mit den Pegasosprotomen“ (Samos. E.3), auf den E. L. Marangou 28 hinweist. Sieht man beide Werke von hinten, so ist die Haartracht in Teilung und Bildung ähnlich. Übereinstimmungen lassen sich ebenso bei Statuetten aus Ephesos finden, auf die Ekrem Akurgal 29 schon hingewiesen hat und die A. Greifenhagen in einer Untersuchung über ein ostgriechisches Elfenbein in Berlin zu Rate zieht 30. Ich denke in diesem Zusammenhang an die Elfenbeinstatuette der Spinnerin aus Ephesos 31, die wohl ans Ende des 7. Jhs. v. Chr. zu datieren ist und deutlich „in ihrem ganzen Habitus dem Orient“ 32 verhaftet ist. 

Aufgrund der Übereinstimmung oder zumindest der Ähnlichkeit mit dem samischen Elfenbeinjüngling, und besonders aufgrund der Tatsache, dass viele Einzelheiten, die beim Elfenbeinjüngling ausgeprägt sind, bei der delphischen Statuette ansatzmäßig vorhanden sind, muss man zu dem Schluss gelangen, dass die hier behandelte Statuette vor den Jüngling aus Samos zu datieren ist, wohl noch in die erste Jahrhunderthälfte, vielleicht ins Jahrzehnt 660/650 v. Chr. 33. Dem Archäologen Michael Siebler 34 ist meiner Ansicht nach zu zustimmen, wenn er schreibt: „Literarische Reflexe solcher Kunstwerke und Waffen sind auch im frühgriechischen Epos überliefert. Dort werden sie oft als Erbstücke bezeichnet oder im Inventar der königlichen Schatzkammern erwähnt. Selbst der Schild des Achilleus oder der Helm der Athena in der ’Ilias’ erinnern an Anregungen aus dem Orient, Zypern oder Ägypten. In diesem fruchtbaren Spannungsfeld zwischen Ost und West ist auch diese kleine Elfenbeinstatuette entstanden, die 1939 zusammen mit anderen beschädigten Votivschätzen aus Gold, Silber, Bronze und Elfenbein im Apollonheiligtum von Delphi entdeckt wurde. Die Figur des Speerträgers mit einer Raubkatze an der Seite - ob Löwe oder Panther ist nicht abschließend geklärt - steht auf einem Kapitell mit Blattüberfall, dessen Deckplatte mit einem sorgfältig ausgeführten Mäandermuster verziert ist. Die Augen des von einem Bart umrahmten Gesichts waren aus anderem Material eingesetzt. Der Mantel ist im unteren Teil geöffnet und gibt den Blick frei auf ein kräftiges Bein. Die Statuette wurde auf Frontalansicht konzipiert, die Rückseite ist deutlich abgeplattet. Ursprünglich wird sie Teil eines Möbels oder eines anderen Gerätes gewesen sein, wie je ein Dübel an der Unterseite und im Rücken nahelegen. Die Figur war also in einen dekorativen Zusammenhang eingebunden. Das Motiv geht sicher auf orientalische Vorbilder zurück, ist aber leicht verändert. So kennt man Löwen mit gespreizten Pranken, die gegen Götter oder Herrscher aufbegehren, nicht aber, dass sie so dicht gleichsam als Stütze des Speerträgers dienen und der Szene damit fast eine heraldische Wirkung verleihen. Auch wirkt der Speer weniger als Abwehrwaffe denn als Szepter. Ob der vermutlich griechische Künstler hier eine Gottheit oder eine mythische Gestalt darstellen wollte, bleibt weiterhin ungeklärt. Aber er hat Einflüsse aus dem Osten aufgenommen und etwas Persönliches geschaffen - ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Ausbildung eines eigenen Stils.“

Dass die delphische Elfenbeinstatuette von einem griechischen Künstler geschaffen wurde, steht wohl außer Frage und wird eigentlich von niemand ernsthaft angezweifelt. Lediglich in der Frage der landschaftlichen Zuordnung der Figur gibt es verschiedene Ansichten, die teilweise in Anmerkung 3 übersichtlich zusammengestellt wurden. Ebenso ungeklärt ist die Deutung des Tieres an der Seite der Figur, die meiner Ansicht nach nur als Panther angesehen werden darf.

Deswegen können wir zusammenfassend folgendes sagen: Die in Delphi gefundene Elfenbeinstatuette stellt Dionysos mit Panther und Thyrsosstab dar. Sie ist ein Werk von hoher Qualität, war ursprünglich „Teil eines Möbels oder  eines anderen Gerätes“ und ist die Arbeit eines griechischen Künstlers aus dem ostionischen Bereich, der orientalischen Einflüssen ausgesetzt war, diese Impulse jedoch in die griechische Formensprache hervorragend umzusetzen verstand. Zu datieren ist die Werk kurz vor die Mitte des 7. Jhs. v. Chr., auf alle Fälle vor den knieenden Jüngling aus Samos und nicht nach ihm 35.

Anmerkungen

  1. Delphi, Mus. Inv.-Nr. 9912. W. Fuchs / H. J. Gloskiewicz, Zur Problematik der Pantherdarstellung in der archaischen Kunst. Teil I: Zur Deutung der Elfenbeinstatuette in Delphi, in: Boreas. Münstersche Beiträge zur Archäologie, hrsg. von W. Fuchs, Bd. 1, Münster 1978, 19-25 (= Erstfassung). Hier neubearbeitete und erweiterte Fassung.
  2. P. Amandry, BCH 63, 1939, 107-109 Taf. 37 (Erstpublikation).  P. Amandry, Syria 24, 1944/45, 149 ff. Abb. 1-3, Taf. 10 f.  F. Salviat, BCH 86, 1962, 105.12 (Ergänzung und Hinzufügung der Basis).
  3. Auswahl bisheriger Datierungen und Zuordnungen: E. Akurgal: 7. Jh. v. Chr.; P. Amandry: archaisch-ionisches Werk (orientalisierend), 7. Jh. v. Chr.; R. Barnett: rhodisch; P. Demargne: „ionisch oder lydisch“, E. 7. Jh. v. Chr.; J. Dörig: frühes 7. Jh. v. Chr., an der kleinasiatischen Küste entstanden, aber griechische Arbeit; K. Fittschen: 3. Drittel 7. Jh. v. Chr., ostionisch; B. Freyer-Schauenburg: rhodisch; H. Gabelmann: 3. Viertel 7. Jh. v. Chr., ionisch; A. Greifenhagen: „lokale rhodische Arbeit unter starkem orientalischen Einfluss“; G. Hanfmann: orientalisierendes Werk; H.-V. Herrmann: 690/680 v. Chr., „ein durchaus griechisches Werk“; Chr. Karusos: um 680 v. Chr., ionisch; R. Lullies: 2. Hälfte 7. Jh. v. Chr., „ionisch ?“; E. L. Marangou: 3. Viertel 7. Jh. v. Chr., ionisch;  K. Schefold: „Werk der reifgeometrischen Periode“, ionisch; W. Schiering: 7. Jh. v. Chr., „phrygisch-lydische Entstehung“; W.-H. Schuchhardt: Ende 7. Jh. v. Chr., „Entstehung in Milet und seiner Umgebung“; M. Siebler: 7. Jh. v. Chr., „Einflüsse aus dem Osten“, „vermutlich griechischer Künstler“; M. Maass:  spätes 8.-7. Jh. v. Chr., „ostgriechisch oder westliches Anatolien“, „vielleicht phrygisch“.
  4. M. Maass, Das antike Delphi. Orakel, Schätze und Monumente, Darmstadt 1993, 139 f. Anm. 51 Abb. 61
  5. M. Maass, a. O., 139 ff. Farbtaf. X und Abb. 62.
  6. M. Maass, a. O., 139 ff. Farbtaf. VIII und IX und Abb. 62.
  7. https://de.wikipedia.org/wiki/Figur_eines_Mannes_mit_L%C3B6wen.
  8. H. Cahn, MusHelv. 7, 1960, 185 ff.; nochmals abgedruckt in:  H. Cahn, Kleine Schriften zur Münzkunde und Archäologie, 1975, 17 ff. Abb. 1.  
  9. Protoattische Halsamphora in London, Brit. Mus. Nr. 1936.10 – 171. Um 600/590 v. Chr. P. E. Arias/M. Hirmer/B. B. Shefton, A History of Greek Vase Painting, 1962, Taf. 10 (mit Lit.). 
  10. Frühkorinthische Amphora in London, Brit. Mus. Nr. 1914.10-30.1. Aus Rhodos, 620/600 v. Chr. P. E. Arias/M. Hirmer/B. B. Shefton, a. O., Taf. VI.  E. Simon/M. u. A. Hirmer, Die griechischen Vasen, 1976, Taf. IX (mit Lit.).
  11. Karlsruhe, Badisches Landesmuseum Nr. 69/61. Attisch, um 540 v. Chr. (Epitimos-Maler). J. Thimme, Griechische Vasen. Bilderhefte des Badischen Landesmuseums Karlsruhe, 1975, Abb. 15 (mit Lit.)
  12. H. Gabelmann, Studien zum frühgriechischen Löwenbild, Berlin 1965, bes. 37 f. Nr. 22.  J. Dörig, Frühe Löwen, AM 76, 1961, 67-80, Beil. 40-50; bes. 68 Anm. 3.
  13. Bronzehydria mit Löwen. Privatbesitz. Lakonisch, 2. Viertel 6. Jh. v. Chr.  W. Hornbostel u. a., Kunst der Antike. Schätze aus norddeutschem Privatbesitz, 1977, 71 Nr. 45 (mit Lit.). 
  14. Frühkorinthische Olpe in London, Brit. Mus. Nr. A 1352. Aus Kamiros (Rhodos), 610/600 v. Chr. P. E. Arias/M. Hirmer/B. B. Shefton, a. O., Taf. VII.  E. Simon, a. O., Taf. X (mit Lit.).
  15. Zum Löwen allg.:  RE XIII.1, Sp. 967-990 s. v. Löwe.  L. Banti, EAA IV, 566-569 s. v. Leone. G. Löwe/H. A. Stoll, Die Antike in Stichworten, Wiesbaden 1976, 208 s. v. Löwe. Zum Panther allg.: RE XVIII.2, Sp. 747-776 s. v. Panther.  L. Banti, EAA V, 938 f. s. v. Panthera. H.-G. Buchholz, Beobachtungen zur nahöstlichen, zyprischen und frühgriechischen Löwenikonographie, in: Ugarit-Forschungen Bd. 37, 2005, 27-215.
  16. G. Roux, Delphi. Orakel und Kultstätte, 1971, 122 f. Anm. 233 ff.; 160 ff. Anm. 305 ff.
  17. K. Braun, in: S. Lauffer (Hrsg.), Griechenland. Lexikon der historischen Stätten. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1989, 185 ff. s. v. Delphi.  
  18. W. F. Otto, Dionysos. Mythos und Kultus (Frankfurter Studien zur Religion und Kultur der Antike 4), 1939², 182-189.
  19. K. Fittschen, Untersuchungen zum Beginn der Sagendarstellungen bei den Griechen, 1969, 82 L 35 Anm. 425. Fittschen deutet den Gegenstand als Lanze oder Szepter, legt sich jedoch nicht endgültig fest.
  20. Zum Thyrsos allg.:  RE VI.1, Sp. 747-752 s. v. Thyrsos. O. Hiltbrunner, Kleines Lexikon der Antike, Bern/München 1974⁵, 556 s. v. Thyrsos. 
  21. K. Schefold, AA 1970, 576.  W. Schiering, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologen-Verbandes e. V., Jg. 7, Heft 2, 1976, 46-49 bezweifelt, dass das Basisornament griechische ist und weist darauf hin, dass es sich „um eine Form des Zinnenmäanders mit Kreuzplattenfüllung“ handele, die lediglich in der phrygischen Ornamentik Parallelen habe.
  22. R. Eilmann, AM 58, 1933, 87 f.  K. Schefold, AA 1970, 576 Anm. 3.
  23. K. Schefold, Orient, Hellas, Rom, 1949, 107 Taf. 1.3
  24. K. Schefold, AA 1970. 576.
  25. Männliche Statuette: Samos E. 71.  H. Walter, AM 72, 1957, 51.  H. Walter/K. Vierneisel, AM 74, 1959, 40 f. Beil. 84.3. P. Demargne, Die Geburt der griechischen Kunst, 1975² (= Universum der Kunst), Abb. 260.  B. Freyer-Schauenburg, Elfenbeine aus dem samischen Heraion. Figürliches, Gefäße und Siegel, 1966, 8 Nr. 18, 82-85 Taf. 18 f.
  26. Walter/Vierneisel, a. O., 41 f.
  27. Knieender Elfenbeinjüngling:  Samos E. 88.  H. Walter, AM 74, 1959, 43 ff. Beil. 87 f.  D. Ohly, ebd., 49 ff., Beil. 87-89 (Rekonstruktion als Arm einer Kithara).  B. Freyer-Schauenburg, a. O., 3 Nr. 3 (E 88), 19-26 Taf. 2 (mit Lit.).  W. Fuchs, Die Skulptur der Griechen, München 1969, 288 f. Abb. 318 f. (mit Lit.). Siebler, Griechische Kunst, Köln (Taschen) 2007, 36 f. Abb. (unbekannter Entstehungsort). Nach Auffassung Sieblers ist der Elfenbeinjüngling nicht knieend, vielmehr springend dargestellt. Er schreibt: „Er vollführt einen ’Springtanz’, bei der die männlichen Teilnehmer zur Klang der Flöte möglichst hohe Luftsprünge machte. Es gab offenbar regelrechte Wettbewerbe in dieser Disziplin, die auch von Vasen-darstellungen bekannt ist. Die technische Ausführung der Statuette  - ein Bohrloch geht durch Kopf und Kinn -  zeigt, dass der Jüngling einst Teil eines kostbaren Gerätes gewesen sein muss. Dachte man früher an die Verwendung für eine Leier, so favorisiert die Forschung heute eine als Gefäßträger. In welchem Zusammenhang der Jüngling aus Samos auch immer gestanden haben mag: Er belegt die hohe Fertigkeit der archaischen Elfenbeinschnitzer und er lässt uns einen Blick in die Welt des Adels werfen, der sich solche Kostbarkeiten leisten konnte und der den Wettstreit auch im Tanz suchte.“
  28. Mann zwischen zwei Pegasosprotomen: Samos E. 3.  B. Freyer-Schauenburg, a. O., 4 Nr. 4 (E. 3), 26-30 Taf. 3, 4 b.  E. L. Marangou, Lakonische Elfenbein- und Beinschnitzereien, 1969, 198 Anm. 1128.  G. Lippold, HdA III.1, 58 Anm. 15.  
  29. E. Akurgal, Die Kunst Anatoliens  von Homer bis Alexander, 1961, 188 Abb. 173.  E. L. Marangou, a. O., 198 Anm. 1129.
  30. A. Greifenhagen, JbBerlMus 7, 1965, 125-156.
  31. Sog. Spinnerin aus Ephesos: Istanbul, Arch. Mus.  D. G. Hogarth, Excavations at Ephesos, 1908, Taf. 24.1. E. Akurgal, a. O., 196 f. Abb. 155-157.  A. Greifenhagen, a. O., 132 Anm. 13 Abb. 7.  P. Demargne, a. O., Abb. 274 („ionisch oder lydisch“). 
  32. A. Greifenhagen, a. O., 132.
  33. Die chronologische Argumentation von H.-V. Herrmann, Zum Problem der Entstehung der griechischen Großplastik, in: Wandlungen. Studien zur antiken und neueren Kunst. E. Homann-Wedeking gewidmet, 1975, Taf. 6 (Vorder- und Seitenansicht) hat mich insoweit überzeugt, dass ich die Statuette doch noch vor die Mitte des 7. Jhs. v. Chr. setzen möchte.
  34. M. Siebler, a. O., 30.
  35. Eine Datierung der Statuette nach dem knieenden Jüngling aus Samos, so wie W.-H. Schuchhardt, Geschichte der griechischen Kunst, 1971, 106 f. Abb. 74  sie vornimmt, scheint mir nicht zulässig zu sein.
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